ein Film von Hannes Hirsch
Deutschland 2023, 79 Minuten, deutsch-englische Originalfassung, teilweise mit deutschen Untertiteln
ein Film von Hannes Hirsch
Moritz ist 22 und gerade von seinem Freund Jonas verlassen worden, für den er eigentlich nach Berlin gezogen war. Eine Zeit lang findet er Geborgenheit bei dem älteren Noah, bis es ihm zu eng wird. Moritz ändert sein Aussehen und taucht ein in die Berliner Partyszene. Er lebt seine unterdrückten Sehnsüchte und sexuellen Fetische aus, verliert sich aber auch zunehmend in Drogenexzessen und emotionaler Entfremdung. Erst mit Hilfe seiner queeren Freunde findet er heraus, wer er wirklich sein möchte.
In seinem ersten Langfilm erzählt Hannes Hirsch von der Suche eines jungen schwulen Mannes zu sich selbst – und von einer Art zweitem Coming-out. „Drifter“ ist eine Reise entlang von Einsamkeit, Exzessen und Kinks, stellt Fragen nach schwulen Körperbildern und nicht-heteronormativen (Wahl-)Verwandtschaften und zeichnet ein authentisches Porträt der queeren Community Berlins von heute.
am Samstag, 9. September um 21:30 Uhr
am Samstag, 9. September um 19:45 Uhr
am Samstag, 9. September um 19:00 Uhr
am Sonntag, 10. September um 18:30 Uhr in Anwesenheit des Regisseurs Hannes Hirsch
am Sonntag, 10. September um 20:00 Uhr in Anwesenheit des Regisseurs Hannes Hirsch
am Samstag, 9. September um 18:00 Uhr
am Samstag, 9. September um 20:00 Uhr
am Freitag, 8. September um 19:45 Uhr in Anwesenheit des Regisseurs Hannes Hirsch
am Donnerstag, 7. September um 20:30 Uhr
am Samstag, 9. September um 21:00 Uhr
am Montag, 11. September um 20:50 Uhr in Anwesenheit des Regisseurs Hannes Hirsch
am Dienstag, 12. September um 20:20 Uhr in Anwesenheit des Regisseurs Hannes Hirsch
am Samstag, 9. September um 20:30 Uhr
am Samstag, 9. September um 21:00 Uhr
am Samstag, 9. September um 19:45 Uhr
Ein Gespräch mit Hannes Hirsch (Regie & Buch), River Matzke (Buch) und Eli Börnicke (Kamera)
Hannes, wie bist Du auf die Idee zum Film gekommen? Und was hat Dich an dem Stoff besonders gereizt?
Hannes: Erst einmal waren das tatsächliche Ereignisse und kleine Geschichten, die ich entweder selbst erlebt oder in meinem Umfeld mitbekommen habe und die mir typisch vorkamen für ein Erwachsenwerden als schwuler Mann in einer Großstadt wie Berlin. Menschen versuchen ja, Ereignissen einen Sinn zu geben, und ich wollte diese Erlebnisse verstehen, habe versucht, sie in verschiedenen Drehbuchversionen irgendwie zu fassen, eine kausale Kette daraus zu bauen – und auf das Thema dahinter zu blicken. Ein Beispiel: Vor einiger Zeit gab es diesen Online-Club der „100+5 Besten“. Das ist irgendwie bei mir hängengeblieben und ich habe versucht, ihn in die Geschichte einzubauen. Anna erzählt im Film, dass ihr Boyfriend Ron zu dem „Club der 100+5 besten Männer Berlins“ gehört; Moritz schaut fasziniert auf Rons Mitgliedsausweis und bezeichnet einen früheren Freund in der nächsten Szene als „zu klein“. Die queere Szene wird von außen oft als bunte Utopie wahrgenommen, in Wirklichkeit gehen aber viele weiße schwule Cis-Männer untereinander ziemlich brutal miteinander um. Es herrscht ein enormer Druck, möglichst groß, männlich und muskulös zu sein. Homophobe Demütigungen, die viele in ihrer Kindheit und Jugend erlebt haben, werden innerhalb der Szene reproduziert.
2017 veröffentlichte Michael Hobbes in der Huffington Post den Artikel „Together Alone: The Epidemic of Gay Loneliness“, der für mich eine wichtige Orientierungshilfe für den Film war. Hobbes beschreibt darin, dass auch noch heute in liberalen Regionen, wo die meisten in einem toleranten Umfeld aufwachsen, homosexuelle Männer überdurchschnittlich häufig an Depressionen und Einsamkeit leiden und dass Drogenmissbrauch und die Selbstmordrate unter schwulen Männern viel höher ist als bei Heterosexuellen.
Der Film behandelt also einige Themen, die für queere Menschen spezifisch sind. Themen wie die Identitätssuche sind aber wahrscheinlich für alle junge Menschen wichtig. Ich habe auch das Gefühl, dass bestimmte „queere Themen“ nach und nach in die Hetero-Welt hinüberschwappen. So hat mich z.B. die körperliche Veränderung von Moritz interessiert: die Suche nach einem eigenen Körper, mit dem man in der großen Stadt auftritt. Ich habe mich gefragt, wie eine solche Veränderung stattfindet. Verändere ich mich zuerst innerlich und darauf folgt eine äußerliche Veränderung? Oder ist es vielleicht auch umgekehrt?
Eli, wie hast Du Dich als Kamerafrau dieser Geschichte genähert?
Eli: Mich hat Hannes‘ Skript als autobiographisch inspirierte Geschichte sehr berührt und mir eine schwule Facette Berlins eröffnet, mit der ich vorher kaum Berührungspunkte hatte. Ich mochte die Ehrlichkeit und den Mut, über sensible Fragen zu Begehren, Fetischen und Sex zu sprechen, aber auch über Wunden aus der Jugendzeit. Gleichzeitig hat mich erschrocken, wie der Umgang innerhalb der Szene gezeichnet war. Es dominiert ein bestimmtes männliches Schönheitsideal, das toxisch durch die Szene spukt. Außerdem sind die Räume geprägt von einer gewissen Unnahbarkeit und einem Stolz der schwulen Männer, die sich im nächsten Moment total zerbrechlich zeigen oder verhalten können. So stellt sich das zumindest für mich von außen dar. Ob das auch ein weiblicher Blick ist, weiß ich nicht.
„Drifter“ erzählt von Einsamkeit und Sinnsuche, aber auch von Freiheit, Exzess und unbegrenzten Möglichkeiten. Ist das das Spannungsfeld, in dem sich junge queere Menschen, die neu in eine Stadt wie Berlin kommen, verorten müssen?
Hannes: Coming-out ist nicht mehr das vorherrschende Thema für junge queere Erwachsene in Berlin, aber es gibt eine Menge anderer Themen. Im Lauf der Drehbuchentwicklung habe ich gemerkt, dass diese Vielfalt den Film ausmacht und ich den Film als Reise begreifen muss – als eine Reise durch viele verschiedene Schauplätze und mit verschiedenen Figuren, die jeweils unterschiedliche Themen diskutieren. Daneben steht das liberale Berlin als utopischer Sehnsuchtsort, in der neue Beziehungsmodelle ausprobiert werden können, heterosexuelle Männer ihre versteckten schwulen Bedürfnisse ausleben dürfen oder man sich ein Stück weit der Arbeitswelt entziehen und total high mehrere Tage durchfeiern kann. In dieser Welt findet Moritz ein Zuhause – oder eben auch nicht.
Moritz sucht nach Orientierungspunkten, nach Vorbildern, nach einem Lebensmodell, das sich richtig anfühlt. Inwieweit ist das für Euch Teil einer besonderen queeren Herausforderung?
Hannes: Als queere Person kann man ja eigentlich nie das heterosexuelle Lebensmodell, das man aus dem eigenen Elternhaus kennt, einfach auf sein eigenes Leben wie eine Schablone drüberlegen. Viele machen das, aber dann passt es an allen Ecken und Enden nicht so recht und man landet schnell da, wo Moritz in der Mitte des Films beim Abendessen mit Noah und dessen heterosexuellen Freundeskreis sitzt. Moritz ghostet Noah dann, rasiert sich die Haare ab und beginnt die obligatorische Achterbahnfahrt, die so viele schwule Männer machen auf der Suche nach einem passenden Lebensmodell. Die Bedingungen für Partnerschaft und Sex sind für queere Menschen andere, Monogamie hat einen anderen Stellenwert und es gibt Orte wie Darkrooms, für die schwule Männer oft beneidet werden. Genderkonstrukte werden gezwungenermaßen schneller durchschaut als von Heteros, traumatische Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend müssen verarbeitet werden. Die Liste an Themen ist lang – deshalb bedeutet Queersein meistens ein sehr langes Ausprobieren, ein Herumdriften, eine Abenteuerreise bis man einen eigenen Platz gefunden hat.
River: Ich glaube daran, dass Beziehungsformen Teil einer sozialen Evolution sind. Tendenziell glaube ich nicht an einen westlichen Fortschrittsgedanken, ganz im Gegenteil. Aber trotzdem kann man nicht von der Hand weisen, wie schnell und tiefgreifend die Gesellschaft und die medialen Inhalte gerade offener werden. Das liegt primär auch daran, dass patriarchale Strukturen hinterfragt oder als solche outgecalled werden. Wir haben mit dem Film versucht, diese Strukturen, die weiter auf und durch die schwulen Figuren hindurch wirken, nicht zu beschönigen, sondern in ihren toxischen Konsequenzen für die Seele offen zu zeigen. Durch den Filter der Sozialisation hindurch imitieren auch wir in queeren Gemeinschaften traditionelle Beziehungsmodelle, sogar wenn diese aus so überholten Glaubensformen wie dem Christentum resultieren, das ja nun wirklich mehr als genug bewiesen hat, was für gewaltvolle Strukturen es erschaffen kann. Aber die neuen Formen haben wir noch nicht gefunden. Wir wachen langsam auf und begreifen, dass das Kollektiv eine Antwort sein könnte. Aber noch sind wir im Übergang. Gemeinsam mit Moritz wollten wir fragen, wie wir denn Begehren, Freundschaft und Liebe leben können, ohne uns dabei auf einfache und schnelle Antworten einzulassen. Das mögen manche als entkoppelt empfinden. Ich finde aber, es ist eine notwendige Suche, die eigentlich ein Leben lang geht.
Der Film nimmt sich dramaturgische Freiheiten, arbeitet mit narrativen Sprüngen und Auslassungen. War der Film von Beginn so offen strukturiert oder entstand vieles erst in der Montage.
Hannes: Nach meinem letzten Kurzfilm „Beach Boy“, der sehr langsam ist, hatte ich Lust, schnell und viel zu erzählen. Die hohe Taktung an Eindrücken gehört ja auch zum subjektiven Erleben einer Großstadt. Ich wollte überfordern und auf keinen Fall langweilen. Während des Montageprozesses mit der Editorin Elena Weihe haben wir dann gemerkt, dass wir dieses Überforderungsgefühl, diese Flut von Eindrücken intensivieren, wenn wir das Aufeinanderfolgen der vielen Begegnungen und Schauplätze ohne große Erklärungen einfach geschehen lassen. Viele der Auslassungen und die teilweise sehr harten Sprünge sind also erst in der Montage entstanden. Elena hatte auch die Idee zu dem großen Sprung in der Mitte, hin zu den abrasierten Haaren. Im Buch gab es mehrere Zwischenschritte vor dieser starken Veränderung. Durch diese Auslassungen bleibt die Frage, wie genau es zu Moritz‘ Verwandlung kam, offen. Genau um diese Lücke herum entsteht eine interessante Spannung – fast als wüsste Moritz genauso wenig wie wir, was da eigentlich in ihm passiert ist.
River: Der Film ist fragmentiert und zeichnet die Hauptfigur in den verschiedenen Lebenswelten jeweils anders. Ich fand es auch wichtig zu zeigen, dass wir in der heutigen Gesellschaft als kongruente Menschen (oder eben Figuren) oft nicht unbedingt im klassischen Sinne „Sinn machen“. Viele Teile unseres Lebens stehen paradox nebeneinander und wir versuchen sie zu integrieren, aber es gelingt uns nur teilweise, und das trifft besonders auf queere Personen zu. Das hinterlässt eine gewisse Orientierungslosigkeit – man findet manchmal den roten Faden für sich selbst nicht. Dabei können Privilegien den Sinn für das Wesentliche trüben, vor allem in einem mitteleuropäischen Umfeld des inneren Disconnect. Die Szene, in der Moritz im anonymen Hostel alleine sitzt und weint, fühlt sich für mich persönlich zum Beispiel ganz furchtbar an. Das ist ein Abgrund, auch wenn er leise inszeniert ist. Es ist ein Prozess, in dem Moritz vielleicht zu sich selbst findet. Für mich ist er am Ende des Films an einem „Point Zero“ – an einem Punkt, in dem Innen und Außen für ihn übereinstimmen, ein seltenes Glück. Dafür musste er sich aber erst gegenüber seiner Femininität und seiner Community öffnen. Anders gibt es keine Zukunft. Wie es für ihn weitergeht, bleibt offen, aber ich bin da recht optimistisch. Am Ende ist Moritz für mich ein gegenwärtiger schwuler Mannes, vielleicht ein queerer schwuler Mann.
Ihr habt an vielen Originalschauplätzen gedreht. Welche Orte waren Euch für die Geschichte besonders wichtig?
Hannes: Ich habe versucht, Berlin spürbar zu machen und trotzdem auf die typischen ikonischen Schauplätze wie Fernsehturm oder Warschauer Straße zu verzichten, so dass der Film ein bisschen universeller ist und Berliner:innen vielleicht einfacher in die Geschichte eintauchen können. Wir haben oft an weniger bekannten Ecken gedreht, viel zum Beispiel im Wedding. Natürlich sind mir glaubhafte Orte wichtig, aber wir haben auch versucht, Filmklischees zu vermeiden. Die typische Drogen-Baller-Szene spielt nicht auf der Club-Toilette, sondern im Auto. Das passiert, glaube ich, in Berlin selten in einem PKW. Es ist generell schwer, ikonische Orte zu erzählen ohne ins Klischee abzurutschen. Deswegen haben wir gelegentlich gewisse Anpassungen vorgenommen. Für die „Tanzszene auf Ecstasy“ haben wir etwa eine Dusche in einen Club gebaut. Ich kenne keinen Club, in dem es so etwas gibt, aber durch die Dusche transportiert sich das Gefühl von Rausch und der Genuss des eigenen Körpers für mich ziemlich gut.
River: Ja, bitte kein Analsex unter dem Fernsehturm oder Technobeats auf Kopfhörern!
Eli: Bestimmte Motive standen von Anfang an fest, andere haben sich erst sehr viel später ergeben. Der Film spielt zu einem großen Teil im Berliner Nachtleben, was sich filmisch mittlerweile auch schon ganz schön abgenutzt hat. Im Vorfeld sah ich die Herausforderung darin, den Partyszenen etwas Charmantes, Charakteristisches zu geben und sie trotzdem nicht zu verkünsteln. Wir hatten viel über das Möbel Olfe [eine queere Bar am Kottbusser Tor, Anm. der Red.] gesprochen, da wollten wir das Sehen und Gesehenwerden durch einen Blickreigen verschiedener schwuler und queerer Männerportraits inszenieren, um die Szene in ihrer Vielfalt einzurahmen. So etwas Ähnliches passiert jetzt eher an anderen Stellen des Films.
Die Schauplätze, die Kostüme, die Musik: Der Film wirkt in vielen Aspekten sehr authentisch, insbesondere, was die Darstellung von Partys, Sex und Drogen betrifft. Wie „echt“ sollte der Film sein?
Hannes: Es gibt ja aktuell einige Filme und Serien, die mehr oder weniger erfolgreich versuchen, das queere Berliner Leben darzustellen. Mir war Authentizität wichtig, weil ich den Film auch für die Szene gedreht habe. Ich wollte endlich mal ein Collapsing auf GHB in einem Film zeigen oder die verliebte, aber kaputte Stimmung auf einer Afterhour einfangen. Die Echtheit der Darstellung ist aber auch unserem wahnsinnig hingebungsvollen queeren Team zu verdanken, von der grandiosen Kostüm-Abteilung bis zu den Komparsen. Alle Departments haben sehr viel von sich selbst in den Film eingebracht. Ich möchte mich auch für die Geduld und das Vertrauen meines Koproduzenten Jost Hering bedanken, ohne den das Projekt so nicht möglich gewesen wäre. Und zentral im Nachtleben ist natürlich auch die Musik, die von Oona Friedrichs zusammengestellt und uns von zahlreichen queeren Artists zur Verfügung gestellt wurde.
River: Wie Hannes war es auch mir wichtig, einen Film zu machen, der direkt aus der Subkultur kommt und nicht aufpoliert wird durch bunte Neonlichter und Einhornästhetik. Vor allem das Kostüm spielt da eine große Rolle, die ich beim Schreiben auch schon versucht habe mitzudenken. Da ich viele Teammitglieder auch schon zuvor persönlich kannte, war ich mir sicher, dass die Elemente authentisch umgesetzt würden. Außerdem kenne ich als nicht-binäre Person, die vorher als schwuler Teenager und in meinen 20ern als schwuler Mann gelebt hat, die Psychologien und Verhaltensweisen von innen und von außen. Ich trage viele Aspekte der verinnerlichten Homophobie immer noch in mir und die meisten Szenen des Films sind mir unglaublich bekannt. Gleichzeitig bin ich mittlerweile nicht mehr in der sozialen Dynamik schwuler Männer und laufe in den Clubs quasi „auf einem anderen Filter“. Ich fühle mich paradoxerweise jetzt viel wohler auf den Tanzflächen, weil ich nicht mehr dem schwulen Körpervergleich ausgesetzt bin. Ich glaube, damit konnte ich auch Hannes in dem Prozess besser spiegeln – und wir konnten kritischer erzählen. Es ist ein Klischee, dass autobiografisches Schreiben einfach ist. Sich selbst zu verstehen und zu dramatisieren ist eine der schwersten Sachen überhaupt. Man muss sich auf den Spiegel einlassen können.
Nach was für einem Schauspieler habt Ihr für die Hauptfigur gesucht und wie habt Ihr Lorenz Hochhuth gefunden? Was war für die übrige Besetzung wichtig?
Hannes: Für die Hauptfigur Moritz war es für mich wichtig, dass sie mit einem weißen Cis-Mann besetzt wird, dem man irgendwie ansieht, dass er gut behütet aufgewachsen ist, sehr viele Möglichkeiten und Privilegien hat. Ich wollte eine gewisse Leere und Austauschbarkeit für ihn und seine Biographie. Dann musste die Figur natürlich sehr wandelbar sein, zunächst rein körperlich aber auch in Hinblick auf seelische Seiten, die er an sich entdeckt. Der Darsteller musste in der Lage sein, sowohl diese naive Sehnsucht nach einer romantischen Beziehung rüberzubringen, als auch eine aggressive, harte Seite, etwa wenn Moritz seinen Freund Stefan sexuell demütigt. Er musste überzeugend Klarinette spielen können und am nächsten Drehtag total verballert mit weit aufgerissenen Augen im Club tanzen können. Moritz ist die vielleicht unklarste Figur im Film, eine Art weißes Blatt, und muss als Hauptfigur auch Projektionsfläche für das Publikum sein. Ich glaube, Lorenz hat das ziemlich gut hinbekommen und gezeigt, wie unglaublich wandlungsfähig er ist.
Obwohl wir einen sehr queeren Cast hatten, waren manche Darsteller:innen noch nie in einem schwulen Club. Wir sind deshalb vor Drehbeginn alle einmal zusammen auf eine schwule Party gegangen. Erst an die Bar, dann in die Warteschlange vor den Klos, in die Kabinen, um zu erleben, was für eine Atmosphäre dort herrscht, und auch noch durch den Darkroom. Ich glaube, das war wichtig, um die Bedingungen der Clubszene zu verstehen.
River: Auch, wenn das gegen viele Drehbuchratgeber und Hochschulklischees verstößt, fand ich es spannend, eine Figur durch ihre Beobachtungen zu charakterisieren. Viele finden das unfilmisch, ich finde es im Gegenteil extrem filmisch. Ich verstehe diesen Missmut gegenüber passiven Hauptfiguren oft nicht. Mich hat ein ehrlicher Blick auf die Ambivalenz der Figur interessiert. Moritz ist in seiner Passivität ja schon auch irgendwie ein privilegierter Pisser. Aber ich mag ihn, wie die anderen Figuren auch, weil er selbst im Herrensauna-Drag [Herrensauna ist eine queere Party in Berlin, Anm. der Red.] irgendwie echt bleibt. Und das hat Eli auch sehr präzise eingefangen. Dass sich viele von uns aus dem Team schon persönlich kannten, machte es beim Schreiben viel einfacher. Ich habe alle Dialoge parallel zum Dreh überarbeitet und sie dann Hannes geschickt, der sie direkt geprobt und gedreht hat. Das war stressig, aber ging vielleicht auch so reibungslos, weil wir das erzählen, was wir kennen.
Die Kamera ist stets dicht an den Figuren, vor allem bei Moritz, mit der sie die Stadt und das Leben in ihr erkundet. Wie habt Ihr das visuelle Konzept des Films angelegt?
Eli: Im Vorfeld haben wir überlegt, wie wir uns zu Moritz und den restlichen Figuren positionieren wollen. Einerseits sollten die Zuschauer:innen durch Moritz‘ Perspektive die Berliner Szene entdecken, gleichzeitig sollte der Film aber eine ausgewogene Erzählung bleiben, die auch den anderen relevanten Figuren wie Moritz’ Freund:innen Kasi oder Eleftheria genug Raum lässt. Ich mochte immer die verflochtenen Side-Stories, die schnipselartig aus dem Berliner Alltag erzählen. Die Idee war eine grundsätzlich empathische Kamera für Moritz und für bestimmte Szenen eine Distanzierung zum Geschehen, um manchmal das Moment zu schaffen, abgeklärter über die zwischenmenschlichen Zusammenhänge zu reflektieren.
Gestalterisch waren uns starke Primärfarben im Szenenbild in Kontrast zu den zarten Schattierungen der unterschiedlichen Hauttöne und -verfärbungen wichtig, wie gerötete Ohren in der Kälte. Wir hatten einen wilden Mix an Fotografien als stilistische Referenzen, darunter auch Bilder des Fotografen Spyros Rennt. Die Figuren stehen mit ihrer Körperlichkeit im Zentrum des Films. Dabei wollten wir die Körper zeigen, wie sie sind, auch mit ihren Narben. Das macht die verletzliche Seite deutlich und verweist auf die Jugendzeit und ihre Spuren.
Hannes: Distanz und Nähe zu den Figuren – das war auch beim Dreh der Knackpunkt. Mir war wichtig, dass „Drifter“ auch von der Kamera her kein typischer „Partyfilm“ wird, der in selbstverliebten bunten Bildern die Geschichte verliert, sondern liebevoll den Figuren folgt und sie in ihren inneren Brüchen ernst nimmt. Ich wollte einen persönlichen Blick einnehmen und mit „Drifter“ eine empowernde Liebeserklärung an die queere Szene der letzten Jahre machen.
HANNES HIRSCH (Regie & Buch) studierte Regie an der Berliner Filmschule Filmarche und „Narrativer Film“ bei Thomas Arslan an der Universität der Künste Berlin. Sein mittellanger Film „Beach Boy“ (2011) lief auf zahlreichen Festivals, u.a. beim Max-Ophüls-Preis und bei Achtung Berlin, wo er mit dem Preis für den Besten mittellangen Film ausgezeichnet wurde. Zusammen mit Diemo Kemmesies gründete er 2009 die Produktionsfirma Milieufilm. Hannes Hirsch ist außerdem Erfinder und Entwickler der Drehplansoftware Fuzzlecheck. „Drifter“ ist sein erster Langfilm.
2008
„Rosa Jungs“, 13 Min.
2011
„Beach Boy“, 32 Min.
2018
„Routes“, 24 Min.
2023
„Drifter“, 79 Min.
RIVER MATZKE (Buch) studierte Kulturwissenschaften und später Drehbuch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). They war in diversen Positionen an zahlreichen Kurzfilmen beteiligt und lernte in internationalen Stoffentwicklungsprogrammen. River schreibt Spielfilme und Serien für Produktionsfirmen und Streamer. Their Herz schlägt für politisches Genrekino, New Queer Cinema und trash. River lebt und arbeitet in Berlin.
ELI BÖRNICKE (Kamera) ist Kamerafrau und Filmemacherin in Berlin. Seit 2017 studiert sie Bildgestaltung an der DFFB. Sie findet besonderen Gefallen an Bildsprache, die den Blick zu neuen, schwindelerregenden Perspektiven zu öffnen vermag. Ihre Kollaborationen sind auf internationalen Filmfestivals zu sehen.
ELENA WEIHE (Schnitt) arbeitet als Editorin von Spiel- und Dokumentarfilmen. Ihre filmischen Arbeiten liefen auf internationalen Festivals, u.a. der Berlinale. Seit 2018 studiert sie an der DFFB. Hier wirkte sie bei mehreren Filmprojekten auch als Sound Designerin mit und konnte zudem die Möglichkeiten des rein auditiven Geschichtenerzählens erforschen. Ihr Hörspiel „Sabines Hand“ gewann auf mehreren Festivals Publikums- und Jurypreise. Ihre Erfahrung im Bereich der Tongestaltung hat großen Einfluss auf ihre Arbeitsweise als Editorin.
LORENZ HOCHHUTH (Moritz), 1996 in Hamburg geboren. Erste Rollen am Thalia Theater und an der Staatsoper Hamburg, u.a. unter Jette Steckel, Lars Ole Walburg, Dmitri Tcherniakov und Studio Braun. 2013 erhielt er den Deutschen Jugendfilmpreis für den Film „Spiegelnackt“. 2014 gewann er für die Regie des Musikvideos „Forever“ das Filmfestival Abgedreht. Von 2017 bis 2021 folgte ein Schauspielstudium an der Universität der Künste in Berlin. Während des Studiums spielte Lorenz Hochhuth u.a. am bat-Studiotheater, am Theater Freiburg, an der Volksbühne Berlin und am Berliner Ensemble, dort in Michael Thalheimers „Endstation Sehnsucht“. Aktuell steht er für Katharina Lüdins Debüt-Kinofilm „Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag“ vor der Kamera. Seit der Spielzeit 2021/22 ist Lorenz Hochhuth festes Ensemblemitglied am neuen Münchner Volkstheater.
GUSTAV SCHMIDT (Jonas), geboren 1996 in Magdeburg, sammelte erste Filmerfahrungen bereits während seines Schauspielstudiums, welches er von 2014-18 an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin absolvierte. Nach dem erfolgreichen Abschluss war er von 2018 bis 2020 am Schauspielhaus Bonn engagiert. Seitdem lebt und arbeitet er wieder als freischaffender Schauspieler in Berlin. Zuletzt war er in der TV Serie „Kranitz“ und im Kinofilm „Alle Für Ella“ in der männlichen Hauptrolle zusehen.
CINO DJAVID (Noah) ist ein deutsch-iranischer Schauspieler, geboren in Hamburg. Dort absolvierte er 2009 sein Schauspielstudium. 2013 wurde er für seine schauspielerischen Leistungen mit dem bundesweiten Proskenion-Nachwuchsförderpreis ausgezeichnet. Seit 2017 ist er am Staatstheater Braunschweig engagiert. Hier erhielt er für seinen Malvolio in „Was ihr wollt“ eine Nennung des Theatermagazins Die Deutsche Bühne für die Beste schauspielerische Leistung. 2023 wird Cino Djavid an das Staatsschauspiel Hannover wechseln. In der TV-Krimireihe „Kolleginnen“ gehört er zum festen Ermittlungsteam. Er war bereits in der Netflix-Serie „Dogs of Berlin“ (Regie: Christian Alvart) als Orkan Erdem zu sehen und spielt an der Seite von Lena Urzendowsky eine Hauptrolle im Kinofilm „Franky Five Star“ (Regie: Birgit Möller), der 2023 im Spielfilm-Wettbewerb auf dem Filmfestival Max-Ophüls-Preis Premiere feiert.
OSCAR HOPPE (Stefan) wurde 1996 in Dresden geboren und wuchs in einer Theaterfamilie auf. Schon parallel zu seinem Schauspielstudium an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch sammelte er Filmerfahrung, z.B. unter der Regie von Christian Schwochow („Bad Banks“, „München – Im Angesicht des Krieges“). Seit 2020 ist er Ensemblemitglied des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin. 2023 wird er in der Netflix-Serie „All the Lights We Cannot See“ des „Stranger Things“-Regisseur Shawn Levy zu sehen sein.
Regie
Hannes Hirsch
Buch
Hannes Hirsch, River Matzke
Kamera
Eli Börnicke
Schnitt
Elena Weihe
Ton
Moritz Zuchantke
Sounddesign
Ilya Selikhov, Sum-Sum Shen
Kostüme
Edgar Mauser, Janina Kaßan, Nina Zimmermann
Setdesign
Fia Bartesch, Lasha Rostobaia
Make-up
Lone Anders, Evin Yeyrek
Produktionsmanagerin
Ayla Sophia Franken
Produzenten
Hannes Hirsch, Diemo Kemmesies
Koproduzenten
Jost Hering, Björn Koll
Moritz
Lorenz Hochhuth
Noah
Cino Djavid
Jonas
Gustav Schmidt
Stefab
Oscar Hoppe
Eleftheria
Marie Tragousti
Daniel
Aviran Edri
Kasi
Cat Jugravu
Ron
Alexandre Karim Howard
Anna
Rabea Egg
Clara
Elaine Cameron
Eine Produktion von Milieufilm
in Koproduktion mit Jost Hering Filme und Salzgeber
mit freundlicher Unterstützung der UdK
im Verleih von Salzgeber